Leseproben

Auszug aus „ex vitro“

Die ersten beiden Abschnitte.

11.10.2210, Elysium City, Ares Konzernrepublik, Mars
Die sanften Klänge der Musik umschmeichelten Kareena Torans Hörzentrum und befreiten ihre Neuronen von der hektischen Aktivität des vergangenen Arbeitstages. All die Dossiers, Statusberichte und Krisensitzungen verschwanden nach und nach aus ihrem sonst so hyperaktiven Geist. Die meisten ihrer Kollegen verwendeten Lullaby oder andere Tranquilizer, um ihre von der permanenten Informationsflut gepeinigten Synapsen zur Ruhe zu bringen. Kareena griff auf die Segnungen der modernen Pharmazie nur in Notfällen zurück. Sie hegte Zweifel an den Lobeshymnen der Werbestrategen, nach denen jede physische oder psychische Suchtentwicklung selbst bei regelmäßiger Benutzung ihrer Produkte vollkommen ausgeschlossen wäre. Die Beobachtung ihres sozialen Umfeldes nährte ihr Misstrauen. Viele ihrer Bekannten konnten ohne Sedativa überhaupt nicht mehr schlafen. Kareena bevorzugte daher Musik, um die Strapazen der zurückliegenden Schicht hinter sich zu lassen. Am liebsten neoklassische Werke wie Janarovs Symphonie „Verlorene Welt“, die sie jetzt gerade hörte. Es war eines ihrer Lieblingsstücke. Sie hatte es direkt auf dem internen Speicher ihres Korteximplantats abgelegt. Das war zwar eigentlich nicht erlaubt, da das Implantat Eigentum der Cynarian Corporation war. Aber diese kleine Insubordination gestattete sie sich mit einigermaßen reinem Gewissen. Ihr Job brachte es mit sich, dass sie gelegentlich in Gegenden verkehrte, in denen kein Zugriff auf das ComNetz möglich war, aus dem sie ihre Musik herunterladen konnte. Doch auch an solch entlegenen Orten wollte sie auf ein paar kulturelle Annehmlichkeiten nicht verzichten.
Die gemächlichen Harmonien des polnischen Komponisten wurden ohne den Umweg über die Ohren direkt in den auditiven Kortex ihres Gehirns eingespeist. Wahre Musikkenner brandmarkten diese Vorgehensweise als barbarischen Frevel, aber Kareena scherte sich nicht darum. Sie wollte sich nach mehr als zwölf Dienststunden nur endlich entspannen und diesen Zweck erfüllte das Neuralinterface allemal.
Sie hatte die Augen geschlossen und alle optischen Inputs des Interface abgeschaltet, gab sich voll und ganz den Melodien hin. Vor ihrem geistigen Auge erschienen Bilder von unendlichen, unberührten Wäldern, Wiesen auf sanft geschwungenen Hügeln, über die Landschaft versprengten Dörfern mit roten Giebeldächern und spitzen Kirchtürmen. Die ganze Szenerie wurde überspannt von einem blauen Himmel, über den die weißen Wattebäusche von Schönwetterwolken dahinzogen. Sie hatte einmal ein Interview mit Ilian Janarov gesehen, in dem der Komponist beschrieb, wie er sich von alten Filmen und Aufzeichnungen zu seiner Musik hatte inspirieren lassen. Obwohl er bereits seit Jahrzehnten tot war, hatte auch er die Idylle, deren unbeschreibliche Schönheit er mit seinen Kompositionen wiedergeben wollte, nicht mehr mit eigenen Augen gesehen. Schon im frühen 22. Jahrhundert, als Janarov seine Werke geschaffen hatte, war diese Welt unwiederbringlich Vergangenheit. So kannte auch Kareena sie nur aus Filmen und Dokumentationen. Sie hatte die Erde bereits besucht. Was sie dort gesehen hatte, ließ es unwahrscheinlich erscheinen, dass die Wunder, die die Aufzeichnungen zeigten, jemals existiert hatten. Der Titel, den der Pole seiner Symphonie gegeben hatte, brachte es auf den Punkt. Die „Verlorene Welt“ traf den Nerv der Zeit und machte seinen Namen unsterblich. Im Gegensatz zu Janarov selbst, der es trotz des Reichtums, den er erwarb, bis zu seinem Lebensende ablehnte, sich den Zellauffrischungen und Genmodifikationen zu unterwerfen, die es ihm ermöglicht hätten, sein Werk bis heute fortzusetzen. Stattdessen hatte er sich aus freien Stücken dem Verfall des Alters und schließlich dem Tod hingegeben. Seiner Popularität tat sein Ableben keinen Abbruch. Ganz im Gegenteil. Er wurde zum Idol der Naturalistenbewegung, die ihn als Vorkämpfer ihres Krieges gegen die Entfremdung der Menschen von ihren Ursprüngen bezeichnete.
Kareena hielt nicht viel von diesen archaischen Ideologien. Sie war auf dem Mars geboren und von frühester Kindheit an in die Welt der Konzerne eingebunden, die den technischen Fortschritt, den die Naturalisten ablehnten, mit aller Macht vorantrieben. Natürlich bedauerte auch sie, dass das Paradies der Erde von einst nicht mehr existierte. Es wäre schön, zu wissen, dass es irgendwo im Sonnensystem einen Ort gab, an dem man unter den wärmenden Strahlen der Morgensonne barfuß über taufeuchte Wiesen spazieren könnte. Aber es war nun mal Vergangenheit. Und darüber hinaus auch noch die Vergangenheit eines fernen Himmelskörpers. Der militanten Schwärmerei der Naturalisten konnte Kareena nichts abgewinnen. Reine Verschwendung von Zeit und anderen kostbaren Ressourcen.
Die lieblichen Klänge der Symphonie verstummten von einem Moment zum nächsten. Stattdessen speiste das Implantat ein Rufsignal in ihr Audiozentrum, das die Wanderung ihrer Gedanken jäh beendete. Für einen Augenblick war Kareena desorientiert. Sie war kurz davor gewesen, endgültig einzudösen und nun wurde sie unsanft aus der Welt der Träume in die Realität zurückgerissen. Sie hatte ihren Erreichbarkeitsstatus auf Notfälle begrenzt. Wer auch immer sie kontaktierte, sollte dafür besser einen guten Grund haben.
Sie öffnete die Augen, nahm ihre Umgebung aber nur schemenhaft wahr. Der Schlaf, dem sie bereits auf halbem Weg entgegengekommen war, gab sie nicht kampflos frei.
Also gut. Dann eben auf die harte Tour.
Mit minimaler Konzentration schickte Kareena einen Nervenimpuls an den Drogenspender in ihrem Bauch. Auf der Stelle ergoss sich ein Cocktail aus Stimulanzien in ihre Venen und verteilte sich mit jedem Schlag ihres Herzens über Muskeln, Organe und Gehirn. Innerhalb weniger Sekunden fiel jeglicher Anflug von Müdigkeit und Orientierungslosigkeit von ihr ab. Ihr Blick klärte sich und zeigte ihr die Unordnung in ihrem Quartier. Sie hoffte, dass niemand einen spontanen Besuch ankündigte. Es würde mehr als ein paar Minuten in Anspruch nehmen, so weit aufzuräumen, dass sie Gäste einlassen könnte.
Mit einem Gedanken öffnete sie den Rufkanal.
Ihre Stimme hatte der Wachmacher nicht ganz wiederhergestellt. Das ohnehin unwirsche „Ja?“ verließ ihre Kehle mit einem rauen, bedrohlichen Unterton, den ihr Kehlkopfmikrofon ungefiltert an den Anrufer weitergab.
„Entschuldigen Sie, Ma’am.“ Sie erkannte die Stimme von Lieutenant Carrough, der sie vor rund einer Stunde als Schichtleiter abgelöst hatte. Kurz darauf erschien auch sein Bild in dem Datenstrom. Das Implantat projizierte es direkt in ihren visuellen Kortex. Carrough verfügte über das gleiche Funkimplantat wie sie, benutzte aber das ComLink seines Arbeitsplatzes inklusive Kamera. Die Signatur des Anrufes bestätigte, dass er sich in der Kommunikationszentrale der Abteilung für Innere Sicherheit befand. Ein offizieller Notruf der höchsten Priorität. Es handelte sich wohl wirklich um etwas Wichtiges.
„Schon gut, Steve“, beruhigte sie ihren offensichtlich ein wenig nervösen Untergebenen. Er wusste, wie sie auf unliebsame Störungen ihrer Ruhezeiten reagieren konnte. Sie ging davon aus, dass er es sich gut überlegt hatte, bevor er sie störte. „Was ist los?“
„Wir haben eine Anfrage von einem Einsatztrupp aus Sektor acht.“
Sektor acht. Besser bekannt als Hades. Das schlimmste Viertel der ganzen Kolonie. Ein Nest von Verkommenheit und ausufernder Kriminalität. Eine eigene Welt, die der Administration der Stadt den Stinkefinger zeigte. Nicht einmal die Sicherheitskräfte gingen dort ohne einen guten Grund hinein.
„Welcher Einsatztrupp?“, hakte Kareena nach. „Der, der den entlaufenen Mutanten suchen sollte?“
„Positiv.“
Sie hatte den Beginn der Operation noch selber überwacht. Der zuständige Sergeant war erfahren und sollte mit einer solchen Routineaufgabe keine Probleme haben. Sie hatte die Verantwortung für die ordnungsgemäße Durchführung des Jobs ohne Bedenken an Lieutenant Carrough übergeben. Schien so, als liefe doch nicht alles nach Plan.
„Was ist passiert? Hat der Trupp Schwierigkeiten?“
„Nein, Ma’am. Keine Verluste. Und keine Schwierigkeiten. Zumindest nicht bezüglich seiner Sicherheit. Aber sie haben etwas … Unerwartetes entdeckt. Ich denke, Sie sollten sich das selber ansehen.“
„Na gut. Schicken Sie’s mir rüber!“
„Es ist besser, Sie kommen hierher. Die Sache ist möglicherweise … brisant. Ich empfehle, dafür nur einen Kanal der höchsten Sicherheitsstufe zu verwenden.“
Das hieß, die Nachricht durfte nicht über öffentliche Leitungen verschickt werden. Damit schied Kareenas Funkimplantat ebenso aus wie das ComLink ihres Privatquartieres. Die höchste Sicherheitsstufe wurde üblicherweise nur für Nachrichten verwendet, die die Sicherheit der Kolonie selbst infrage stellten. In ihrer gesamten Laufbahn hatte Kareena nur eine Handvoll derartiger Mitteilungen erlebt. Und keine davon war direkt an sie gerichtet gewesen. Einen Moment lang zweifelte sie an Carroughs Urteilsvermögen, aber der junge Lieutenant war einer der gewissenhaftesten Mitarbeiter ihrer Einheit. Er war wohl wirklich auf etwas Außergewöhnliches gestoßen.
„Ich komme“, sagte sie, während sie sich vom Bett erhob. Dann trennte sie die Verbindung.
Eilig zog sie die Dienstuniform wieder an, die sie achtlos über die Stuhllehne geworfen hatte, als sie nach Hause gekommen war. Eigentlich wäre frische Kleidung angebracht gewesen. Aber sie war ernsthaft über den Notruf beunruhigt und wollte keine Zeit damit verschwenden, in dem allgemeinen Chaos ihres Quartiers neue Sachen zusammenzusuchen. Sie fühlte sich unwohl in der getragenen Uniform. Sie legte immer großen Wert auf eine tadellose Erscheinung. Aber ein Notfall war halt ein Notfall.
Beim Verlassen ihres Quartiers wählte sie sich über das ComLink in ihrem Kopf in das Verkehrssystem ein und orderte eine Transportkapsel mit höchster Priorität. Nicht ganz billig, aber in derartigen Fällen erstattete der Konzern die Kosten. Mit weit ausholenden Schritten hastete sie die Korridore entlang. Um diese Uhrzeit war die Beleuchtung gedimmt. Wenn schon kein Zugang zum Tageslicht bestand, konnte man auf diese Weise wenigstens die Illusion von Tag und Nacht aufrechterhalten.
Am Terminal des Wohnblocks angekommen, wartete die Kapsel bereits auf sie. Die Dreiergruppe, die vor dem Einstieg stand, warf ihr unverhohlen finstere Blicke zu. Wegen Kareenas Prioritätskapsel verzögerte sich ihr Transport. Aber keiner der Wartenden wagte, etwas zu sagen. Die Uniform der Inneren Sicherheit flößte jedem Zivilisten genug Respekt ein, um seine ureigene Meinung für sich zu behalten.
Routiniert hielt Kareena ihren Unterarm mit dem implantierten ID-Chip an den Scanner. Innerhalb einer halben Sekunde bestätigte er ihre Identität und gab den Zugang zur Kapsel frei. Sie nahm auf einer der beiden gegenüberliegenden Sitzbänke Platz und schenkte den drei Zivilisten noch ein entschuldigendes Lächeln, als die Luke sich wieder schloss. Das Ziel hatte sie bereits bei der Bestellung des Transportes festgelegt, so dass die Kapsel sich unmittelbar in Bewegung setzte.
„Maximale Geschwindigkeit“, ordnete sie an. Die Steuerung der Transportröhre reagierte umgehend auf ihr Kommando. Die Kapsel tat ihr Bestes, die Fahrt für Kareena so erträglich wie möglich zu machen. Bei jedem Beschleunigungs- und Bremsmanöver drehte sie sich so, dass die Passagierin lediglich in den Sitz gepresst und nicht wild umher geschleudert wurde. Dennoch bedurfte es eines stabilen Magens, einen derartigen Ritt unbeschadet zu überstehen. Kareena war denn auch vollends damit beschäftigt, ihr Abendessen bei sich zu behalten, während die Kapsel in einem wirren Zickzackkurs durch das Röhrenlabyrinth von Elysium City raste.
Elysium City. Die ungekrönte Metropole der Ares-Konzernrepublik. Heimat von neun Millionen Menschen, fast einem Zehntel der Gesamtbevölkerung des Mars. Neben Selene City auf Luna eine der größten Städte jenseits der Erdoberfläche. Eine wuchernde Ansammlung größtenteils unterirdisch angelegter Habitate, deren mangelnde städtebauliche Planung sich unter anderem in den wild verzweigten Tunneln des immer wieder erweiterten Transportsystems offenbarte, durch die Kareena gerade raste.
Vier Minuten später deutete das abschließende Bremsmanöver das Ende der Tortur an. Kareena erhob sich von dem Sitz und zwängte sich hinaus, sobald die Luke sich öffnete. Zwei Gardisten der USI-Tochter InterSec in schweren Körperpanzern musterten sie eindringlich. Der rechte hob die Hand zum Gruß.
„Captain Toran“, tönte es aus dem Helmlautsprecher.
Sie kannte die Stimme, konnte ihr jedoch auf die Schnelle keinen Namen zuordnen. Ihren internen Speicher zu bemühen, hätte mehrere Sekunden in Anspruch genommen, die sie im Augenblick nicht investieren wollte. Also beschränkte sie ihre Antwort auf ein knappes Nicken und schritt auf den Eingang zur Kommunikationszentrale zu. Ein weiteres Mal tastete der ID-Scanner ihren Unterarm ab und gab die Tür frei, als er sicher war, dass sie die nötige Autorisationsstufe besaß.
Im Inneren der Zentrale herrschte offensichtliche Unruhe. Üblicherweise erfüllte lediglich das leise Summen der Klimaanlage den Raum. Jegliche Kommunikation lief über die Implantate ab, die alle hier Beschäftigten besaßen. Doch heute hatte mehr als die Hälfte der Anwesenden die ergonomischen Liegesessel verlassen und stand in einem wilden Haufen rund um den Arbeitsplatz des diensthabenden Schichtleiters. Die angeregte Diskussion verstummte, als Kareena den Raum betrat. Alle Gesichter wandten sich ihr zu. Auf Steve Carroughs Zügen zeigte sich tiefe Erleichterung. Bisher hatte sie den jungen Offizier als außerordentlich kompetent kennengelernt. Ihn so emotional zu sehen, beunruhigte sie.
Forsch trat sie auf die Gruppe zu. „Meine Damen und Herren. Was ist hier los?“
Lieutenant Carrough salutierte knapp. Einige der anderen strafften sich ebenfalls halbherzig. Als Kareena die Begrüßung ignorierte, ließen auch die übrigen Sicherheitsleute das Protokoll beiseite.
„Am besten, Sie sehen es sich selber an.“ Carrough zog ein Datenkabel aus der Kopfstütze seines Sessels und bot es ihr an. Sie nahm es und steckte es, ohne zu zögern, in die Buchse hinter ihrem Ohr. Es war ein wenig leichtsinnig, eine volle sensorische Simulation im Stehen zu starten. Doch es erschien ihr unpassend, sich auf dem Sessel niederzulassen, während alle um sie herumstanden. Sie hielt sich mit einer Hand an der Nackenstütze fest. Das würde reichen müssen.
Das Interface erkannte sie nach einem kurzen Neuralscan und übertrug das Übersichtsmenü in ihr Gehirn. Die Prioritätsmeldung von der Patrouille in Sektor acht dominierte die Anzeige. Sie öffnete den Kanal und wurde sofort mit dem Patrouillenleiter verbunden. Das Bild seiner Helmkamera wurde in ihr Sehzentrum eingespeist. Die Verbindung war nicht besonders gut. Zwischen den ständigen Bildstörungen erkannte sie die schweren Körperpanzer des Sicherheitsteams. Die Lichtkegel ihrer Helmlampen fielen auf die Wände eines engen Raumes, der mit allerlei Gegenständen vollgestopft war, die sie zunächst nicht einordnen konnte.
„Captain Toran“, begrüßte der Patrouillenkommandant sie. Die Nervosität in seiner Stimme war unverkennbar. „Sergeant Martinez hier. Gut, dass sie da sind.“
„Was ist los, Martinez? Haben Sie den Flüchtigen gefunden?“
„Nein. Noch nicht. Aber wir haben hier was entdeckt … Ich habe dem hier Priorität eingeräumt und die Suche nach dem Flüchtigen erst mal abgebrochen.“
Langsam wurde Kareena ungeduldig. „Was haben Sie entdeckt?“
„Am besten, ich zeig’s Ihnen.“
Er schob einen seiner Leute zur Seite. Hinter dem massigen Körperpanzer kamen mehrere Personen zum Vorschein. Sie hockten auf dem nackten Boden des Raumes zwischen Stapeln von leeren Fast Food Verpackungen und anderem undefinierbaren Gerümpel. Zuvorderst saß dort eine Frau. Der weite Overall, den sie trug, konnte ihren stämmigen Körperbau nicht verbergen. Ihr nahezu haarloser, kantiger, mit gräulicher Haut bedeckter Schädel ließ keinen Zweifel. Sie war ein Mutant. Beta-Klasse. Eine Arbeiterin. Möglicherweise ebenfalls eine Flüchtige. Viele entflohene Mutanten versteckten sich in Sektor acht. Aber sie war nicht die Person, die die Patrouille gesucht hatte. Kareena erinnerte sich, dass es sich dabei um einen Mann gehandelt hatte. Soweit noch nichts Besonderes.
Hinter der Frau kauerten zwei weitere Gestalten und blickten ängstlich in das Scheinwerferlicht des Polizisten. Sie waren kleiner und trugen kaum mehr als Lumpen am Leib. Auch ihre Schädel waren nur von wenigen Haaren bedeckt. Ihre Haut besaß die typische graue Färbung. Ein dünner geflochtener Zopf fiel über die hohe Stirn eines der beiden. Kareena hatte schon zuvor Mutantenkinder gesehen. Aber bislang ausschließlich in den Zuchtfarmen der Konzerne, die sie herstellten. Ein schrecklicher Verdacht bemächtigte sich ihrer.
Ihr Blick fiel wieder auf die Frau. Sie trug etwas in den Armen. Ein Bündel aus Lumpen und Kunststofffolie. Sie hielt es eng an ihrer Brust, versuchte, es vor dem Licht des Scheinwerfers zu verbergen, der ihr ins Gesicht strahlte. Sergeant Martinez’ gepanzerte Hand kam ins Blickfeld der Kamera. Unbarmherzig griffen seine stählernen Handschuhe nach dem Bündel. Die Frau wehrte sich, drehte sich zur Seite, um das Ding in ihren Armen zu schützen. Martinez packte sie an der Schulter und zog sie wieder nach vorne. „Ruhig. Ich werde ihm nichts tun“, erklang seine blecherne Stimme aus dem Helmlautsprecher. Behutsam streckte er zwei Finger nach dem Bündel aus und schob vorsichtig die obersten Lagen aus Folie zur Seite. Eine kleine Nase kam zum Vorschein, ein paar zusammengekniffene Augen. Mit einer verzerrten Grimasse beschwerte sich das winzige Wesen über die grelle Beleuchtung. Ein gequältes Quäken erklang aus dem zahnlosen Mund. Martinez hatte nun den Kopf des Babys vollständig freigelegt. Die kantige Schädelform war unverkennbar. Die graue Haut erstickte auch den letzten Zweifel.
„Scheiße“, war alles, was Kareena sagen konnte. „So eine verdammte Scheiße!“

13.10.2210, König Christian X Land, Grönland, Erde
Der Regen peitschte unbarmherzig auf Skip ein, während er über die nackten Felsen marschierte. Jeder der eiskalten Tropfen prallte wie ein Projektil gegen seine Haut, getrieben von dem orkanartigen Sturm, der über das Prospektorencamp hinwegfegte. Wie seine beiden Kameraden war auch er in dicke Schutzkleidung gehüllt, hatte jedoch im Gegensatz zu den anderen das Visier seines Helmes nicht geschlossen. Zu Anfang war seine Neigung, sich ohne Not den entfesselten Elementen der Erde auszusetzen, auf Unverständnis gestoßen. Die einen hatten ihn belächelt, andere hielten ihn für geradewegs wahnsinnig. Mittlerweile akzeptierten die meisten, dass er es einfach so haben wollte. Dass er die Welt, die ihn umgab, mit allen Sinnen spüren mochte. Dafür war er auch bereit, Schmerzen zu ertragen. Nur bis zu einem bestimmten Maß natürlich. Er war kein Masochist. Die Nadelstiche der Regentropfen auf seinem Gesicht gehörten aber definitiv noch zu der Kategorie, die er als ausgesprochen angenehm empfand. Das Wasser auf seiner Haut verband ihn mit dem Regen, mit dem Wind, der die Tropfen nahezu waagrecht über das Land fegte, mit den tief hängenden Wolken, die der Sturm über ihn hinweg jagte. Sogar mit dem Meer, aus dem die Wolken entstanden waren. Er war Teil einer Welt, in der alles miteinander zusammenhing. Er spürte diese Welt so unmittelbar, dass es ihn schaudern ließ.
Neben einem der acht mannshohen Reifen des Trucks stellte er das Schweißgerät ab. Mace ließ schweigend den neuen Bohrmeißel daneben sinken. Der Hüne wiegte den Kopf nach links und rechts. Das Knacken seiner Halswirbel übertönte sogar den pfeifenden Wind. Jorge kletterte indes wortlos in den Führerstand des Krans, startete den Elektromotor und schwenkte den Ausleger zur Seite. Er senkte das Gestänge so weit ab, bis es in Kopfhöhe über dem Boden baumelte. Skip streckte ihm die Faust mit dem abgespreizten Daumen entgegen. Das Summen des Motors erstarb und Jorge kam wieder herunter. Er hielt kurz inne, als eine besonders starke Bö ihm beinahe den Helm vom Kopf wehte.
„Dreckswetter“, schimpfte er.
Skip grinste, während er mit geübten Handgriffen den Schweißbrenner einsatzbereit machte. Im Gegensatz zu Jorge konnte er von den entfesselten Naturgewalten kaum genug bekommen. Den größten Teil seines Lebens hatte er sich von seiner Umgebung abgeschottet. Er hatte keine Wahl gehabt. Die Feindseligkeit des Weltraums gegenüber allem Leben verhinderte jegliche Unmittelbarkeit. Selbst die dicke Haut, die robusten Knochen und die erhöhte Zellregeneration, die die Genkonstrukteure ihm hatten angedeihen lassen, konnten ihn nicht vor Sonnenstürmen, Temperaturen nahe dem absoluten Nullpunkt und dem Vakuum schützen. Sein Leben war abhängig gewesen von den dicken Panzerschotten, elektromagnetischen Strahlenschutzschilden und Druckschleusen, die ihn stets von seiner Umwelt isoliert hatten.
Doch jetzt war er auf der Erde. Statt der unbarmherzigen, lebensfeindlichen Leere, die jenseits der Außenhülle des interplanetaren Tankers lauerte, der bis vor einem halben Jahr für ihn einer Heimat am nächsten gekommen war, gab es hier überall atembare Luft. In manchen Regionen der Erde war zwar die Kontamination mit Giftstoffen und den radioaktiven Hinterlassenschaften der nuklearen Abenteuer des 20. und 21. Jahrhunderts für Menschen durchaus bedenklich. Aber Grönland war zu jener Zeit noch eine nahezu menschenleere Eiswüste gewesen und weitgehend von den Eskapaden der Menschheit verschont geblieben. Außerdem waren Skips Zellen weitaus resistenter gegen die Folgen der Radioaktivität als die natürlich geborener Menschen. Für ihn war die frische Luft ungefährlich. Auch, wenn er das erst mühsam hatte lernen müssen.
Er erinnerte sich noch gut an die Panik, die er verspürt hatte, als er zum ersten Mal in seinem Leben ins Freie getreten war. An die Überwindung, die es ihn gekostet hatte, sich dem offenen Himmel auszusetzen. An das unbeschreibliche Gefühl des kalten Windes auf seinen Händen, in seinem Gesicht. Er hatte fast eine Stunde gebraucht, um die Tür, die die Sicherheit des Gebäudeinneren von der unbändigen Welt des Draußen trennte, endgültig zu überwinden. Doch mit jedem Tag, den er auf der Erde verbrachte, war es seinen Instinkten leichter gefallen zu akzeptieren, dass es nicht den unmittelbaren Tod bedeutete, die schützenden Hüllen aus Stahl und Beton hinter sich zu lassen. Nach nun mehr als einem halben Jahr flößten ihm der ungefilterte Anblick des Himmels und die schiere Weite der offenen Landschaft immer noch gehörige Angst ein. Aber er hatte gelernt, die Furcht zu kanalisieren und in eine Region seines Geistes zu verbannen, wo sie sein Handeln nicht beeinträchtigte. Doch das reichte ihm noch nicht. Er wollte sie endgültig loswerden. Und was ihm dabei am besten half, war die unmittelbare Konfrontation mit dem Objekt seiner Furcht. Mittlerweile genoss er den Kampf gegen seine über Jahrzehnte in Druckkapseln und hermetisch abgeschlossenen Habitaten antrainierten Instinkte. Er hatte die Grenzen seiner Fähigkeit, die Angst zu überwinden, nun so weit ausgedehnt, dass sein Schutzbedürfnis gegenüber den Attacken der Erdatmosphäre in manchen Bereichen sogar unterhalb dem seiner Kameraden lag, die hier aufgewachsen waren.
Und so ganz nebenbei pflegte er auf diese Weise seinen Ruf, ein echt harter Knochen zu sein.
Skip zog das abgedunkelte untere Visier des Helmes über die Augen und schaltete den Plasmabrenner an. Die Hitze der knapp faustgroßen Flamme schlug ihm ins abgesehen von der Schweißbrille ungeschützte Gesicht. Sie spiegelte sich auf den Helmen seiner Begleiter wider, die die beiden Teile zusammendrückten. Jorge hielt das Gestänge, das vom Kran herabhing, in Position. Mace schloss seine riesenhaften Pranken um den neuen Meißel und wuchtete das zentnerschwere Trumm einen halben Meter nach oben, bis die Kanten aufeinanderlagen. Skip setzte die blau gleißende Flamme an und verband die beiden Stücke miteinander. Dampfschwaden stiegen auf, wo der Regen auf das glühende Metall traf. Die Schweißnaht würde kein Kunstwerk werden, aber halten. Mace drehte sich in eine andere Position, um mit seinem massigen Leib den Regen abzuhalten. Es half nur bedingt. Nach einer Minute konnte Skip erkennen, wie die Arme des Riesen unter der Last zu zittern begannen. Der Alpha-Klasse-Arbeiter gab wie üblich keinen Laut von sich, aber er würde die Anstrengung nicht mehr ewig aushalten. Skip beeilte sich mit den letzten Zentimetern, entfernte die Plasmaflamme vom Metall und beobachtete, wie seine Farbe innerhalb weniger Sekunden von Weiß über Rot zu einem schmutzigen dunklen Grau wechselte. Mit der linken Hand bedeutete er Mace, seine Last vorsichtig herabzulassen. Er begutachtete die Schweißnaht von allen Seiten, während die Spannung langsam zunahm. Sah gut aus.
Er wedelte mit der Hand. Mace ließ endgültig los. Der Meißel hielt. Zumindest, wenn er nur lose am Kran hing. Aber immerhin. Sie hatten ihren Teil getan. Die abschließenden Belastungstests würde die Bohrcrew durchführen. Aber sicher nicht mehr heute. Der Sturm wurde immer stärker. Auch für das dreiköpfige Reparaturteam war dies der letzte Job der Schicht gewesen. Jorge machte sich bereits auf den Rückweg zum Camp. Mace befestigte das Gestänge, damit es nicht vom Wind herumgetrieben wurde. Skip nahm noch einen tiefen Zug der eiskalten, regengetränkten Luft. Dann packte er das Schweißgerät und trottete seinem riesenhaften Kameraden hinterher, zurück zu den Containern des Prospektorenlagers. Die halbzylinderförmigen mobilen Baracken klammerten sich eng an den nackten Fels. Fast schien es, als duckten sie sich unter dem Sturm. Erste nasse Schneeflocken mischten sich unter die Regentropfen. Morgen früh würden sich vermutlich Schneewehen auf der windabgewandten Seite auftürmen. Der kurze arktische Sommer war vorbei. Das Eis, das Grönland seit ewigen Zeiten in seinem kalten Würgegriff hielt, würde bald zurückkehren. Zumindest für ein flüchtiges Zwischenspiel. Langfristig jedoch verlor es sein sicher geglaubtes Refugium. Jedes Jahr zogen die gewaltigen Inlandgletscher sich weiter zurück. Mal ein paar hundert Meter, in warmen Sommern auch mal mehrere Kilometer. Und jedes Jahr gaben sie einen weiteren Streifen jungfräulichen Landes preis, das noch kein Prospektor oder Bergmann jemals zu Gesicht bekommen hatte. Für rohstofffördernde Konzerne wie Skips Arbeitgeber Ascon Industries war Grönland eine ungeöffnete Schatztruhe. Hunderte Prospektorencamps wie das, auf das Skip gerade zuhielt, drangen jedes Jahr weiter ins Landesinnere vor, machten Probebohrungen, erstellten Schürfpläne und stellten Rentabilitätsanalysen auf. In ihrem Gefolge überzogen Minen, Bohrstationen und die ganze restliche Infrastruktur der Rohstoffförderung das Land, um den unstillbaren Hunger der Menschheit nach den Schätzen der Erde zu befriedigen. Im Vergleich zu den gigantischen Erträgen des extraterrestrischen Bergbaus im Asteroidengürtel und den anderen Kolonien im Sonnensystem war dies hier zwar Kleinkram, aber Ascon und seine terrestrischen Konkurrenten leisteten ihren Beitrag dazu, die Abhängigkeit der irdischen Nationen und Konzerne von Importen zumindest ein wenig zu reduzieren. Nur so war es Staaten wie der Europäischen Föderation, dem Arctica-Block, der Amerikanischen Liga oder dem Kaiserreich Yamato überhaupt möglich, ihre politische Souveränität gegenüber den transnationalen Firmengiganten der Kolonien zu behaupten. Dass Skip damit der Marktführerschaft seines ehemaligen Arbeitgebers, der beinahe allmächtigen United Space Industries Corporation, entgegenwirkte, war ihm nur ganz am Anfang wie Verrat vorgekommen. Letztlich war es ihm egal, wer ihn bezahlte. Er erledigte einfach nur seinen Job.
Aber für ein halbes Jahr war damit nun erst einmal Schluss. Die Sechs-Monats-Schicht der Prospektoren näherte sich ihrem Ende. Das Camp würde bald bis auf eine Rumpfcrew für die Überwinterung verlassen sein. Vor dem Eingang zum Hangarcontainer drehte Skip sich ein letztes Mal um, schloss die Augen und genoss das Zerplatzen der dicken Regentropfen auf seinem Gesicht. Wie wohl der Rest der Erde sein würde? Er freute sich, endlich mehr von dem Planeten zu sehen als die öden Fels- und Eiswüsten Grönlands. Er hatte schon reichlich Pläne für den Winterurlaub, bevor es im Frühjahr wieder losging auf die nächste Schicht in der Arktis. Aber eins nach dem anderen. Jetzt war erst mal Feierabend.
Das Tosen der Elemente erstarb von einem Moment zum nächsten, als Skip die Stahltür schloss und die enge Schleuse mit den Spinden für die Schutzkleidung betrat. Jorge hatte bereits seinen Helm abgesetzt und schüttelte seine langen schwarzen Haare aus. „Verdammtes Scheißwetter“, grummelte er vor sich hin. „Ich krieg’ verdammt nochmal zu wenig Kohle für die Scheiße.“
Sein Englisch war, wie bei den meisten auf der Erde aufgewachsenen Menschen, recht altertümlich, ohne die chinesischen und sonstigen Einschläge, die in den Kolonien üblich waren. Skip hatte von Anfang an keine Schwierigkeiten gehabt, es zu verstehen. Aber es hatte ihn große Mühe gekostet, seine eigene Sprache so weit anzupassen, dass seine Gesprächspartner ihn nicht mehr bei jeden zweiten Satz verständnislos anstarrten.
„Hör dir den Waschlappen an!“, erwiderte Mace mit seiner unmenschlich tiefen Bassstimme. Er gab Jorge einen Klaps auf den Rücken. „Ich hab’s schon immer gesagt: Die Norms halten einfach nix aus.“
Jorges Gesicht ließ erkennen, dass er gerade nicht zu Scherzen aufgelegt war. „Bleib von mir, du überdimensionierte Missgeburt!“
„Ich hab’s dir schon mal gesagt“, Mace ließ sich wie üblich nicht provozieren und redete ganz ruhig weiter, „ich bin überhaupt nicht geboren …“
„Ja, ja, ich weiß schon“, unterbrach Jorge ihn, „sie haben dich einfach nur aus deinem Brutkanister gezogen. Ich hab’s mitgekriegt. Verdammtes Mutantenpack!“
Mutanten. So nannte man sie. Mace und Skip und all die anderen Produkte der modernen Gentechnik. Heute musste man noch ein „verdammt“ davor und ein „Pack“ dahinter setzen, damit es eine Beleidigung wurde. Es war nicht überliefert, wer als Erstes die Bezeichnung „Mutanten“ für die neuen Menschenrassen aus den Zuchtfarmen der Genetikkonzerne verwendet hatte. In jedem Fall war es damals als Schimpfwort gemeint gewesen. Wenn auch sachlich falsch. Mutation war ein zufälliger Prozess. Die Veränderungen, die die Genkonstrukteure an ihrem menschlichen Rohmaterial vornahmen, waren gezielt und zweckgebunden. Trotzdem hatte sich die Bezeichnung „Mutanten“ durchgesetzt und wurde mittlerweile sogar von den Produzenten selber verwendet. Skips alter Lehrer, Dr. Huang, mochte den Begriff nicht und hatte seinen Schülern eingebläut, nicht zu vergessen, woher das Wort ursprünglich stammte und welche Absicht einst dahinter gesteckt hatte. Gegen die allgemeine Verbreitung der Bezeichnung war Huang aber machtlos. Skip benutzte sie selber, ohne sich allzu viele Gedanken darüber zu machen. Auch Mace schien keine übermäßige Aversion dagegen zu haben, Mutant genannt zu werden.
„Ach, du bist doch nur neidisch“, brummte er weiter, „weil du das hier nicht kannst, nicht wahr, Kleiner.“ Er hatte den dicken Anorak ausgezogen und seinen gewaltigen Bizeps entblößt. Der kopfgroße Muskel wanderte auf seinen Oberarm auf und ab, wenn er ihn anspannte.
„Nenn mich nicht „Kleiner“, du Riesenbaby!“ Jorges Tonfall war gereizt.
„Jetzt hört endlich mit der Kabbelei auf!“ Skip hatte genug von dem ewigen Geplänkel der beiden. Es war egal, wie sie sich beschimpften und gegenseitig aufzogen, später in der Stationskantine würden sie zusammen trinken und lachen. Aber er konnte dem Gezänk nichts abgewinnen. „Zieht den Krempel aus und macht, dass ihr hier rauskommt, statt mir im Weg zu stehen! Ich will endlich Feierabend machen.“
„Geht klar, Boss.“ Mace grinste breit.
Jorges Miene war weniger freundlich. Er hatte immer noch daran zu knabbern, dass Skip zum Anführer des Reparaturteams ernannt worden war. Als Kameraden konnte er Mutanten akzeptieren, aber als Vorgesetzte ... das bereitete ihm noch Schwierigkeiten. Schweigend kam er Skips Anweisung nach.
Nachdem alle drei die Helme und Anoraks verstaut hatten, betraten sie den Hangar. Skip erstattete Ole Skarsgard, dem leitenden Ingenieur, kurz Bericht über den erfolgreichen Wartungseinsatz. Auf Skarsgards Verneinung der Frage nach weiteren dringenden Aufgaben verkündete Skip seinen beiden Kameraden den Feierabend und alle drei verzogen sich in die Mannschaftsquartiere. Er traf Mace noch einmal in der Gemeinschaftsdusche, ansonsten gingen sie getrennte Wege.
Als Teamleiter teilte Skip sich ein Zweibettzimmer mit Rosco, einem schwarzen Norm, der kaum ein Wort redete. Skip war es recht. Er mochte die Ruhe und war froh, nicht mehr in einem der üblichen Vier- oder gar Sechsbettzimmer einquartiert zu sein, wo immer irgendjemand quatschte oder anderweitig Lärm machte. Aus seiner Zeit auf dem Frachter war er es gewohnt, auf engstem Raum mit anderen Menschen zusammenzuleben. Aber in den Raumschiffbesatzungen war es üblich, seine Kameraden nicht unnötig zu belästigen. Jeder achtete die Privatsphäre der anderen. Wer sich nicht an dieses ungeschriebene Gesetz hielt, wurde eindringlich darum gebeten, sich anzupassen, und ansonsten aus der Crew entfernt – auf die eine oder andere Art. Die meisten lernten schnell, sich den Gepflogenheiten unterzuordnen.
Hier auf der Erde hingegen schien ein solcher Verhaltenskodex nicht zu bestehen. Die rund dreißigköpfige Mannschaft der Prospektionsstation war wild zusammengewürfelt und jeder schien den anderen dringend mitteilen zu müssen, was er gerade dachte, was er schon alles erlebt hatte und welche Auswirkung die Verpflegung heute auf seine Verdauung hatte. Nicht, dass Skip sich nicht für die Lebensgeschichten seiner Kameraden interessierte – ganz im Gegenteil. Er war ja auf die Erde gekommen, um die Wiege der Menschheit und ihre Bewohner kennenzulernen. Aber ungefragt mit irgendwelchen Angebergeschichten zugemüllt zu werden, hatte recht schnell begonnen, ihm gehörig auf die Nerven zu gehen. Von daher hatte er das Angebot, in Roscos Quartier einzuziehen, dankend angenommen, als er vor zwei Monaten befördert worden war.
Im Augenblick war es besonders ruhig, da sein Zimmergenosse regungslos auf dem Bett lag, eine Datenbrille auf den Augen und ein Elektrodennetz auf dem Kopf. Ob er sich gerade in der virtuellen Welt mit seiner Familie traf oder einen Porno ansah, war von außen nicht zu erkennen. Rosco weigerte sich, ein neurales Interface implantieren zu lassen, obwohl die Qualität der Übertragung damit erheblich stieg. Er war kein Gaianer, die alle moderne Technologie verteufelten, aber er legte Wert auf die Unversehrtheit seines Körpers. Skip konnte diese Einstellung nur bedingt nachvollziehen. Er wollte die unbestreitbaren Vorteile der Implantate nicht missen. Aber er hatte schon lange akzeptiert, dass er nicht alle Marotten der natürlich geborenen Menschen verstehen würde.
 Skip blieb nicht lange. Er zog frische Kleidung an und machte sich auf den Weg in die Kantine. Der Speiseraum diente ganz allgemein als Treffpunkt für die Freischicht und war abgesehen von der virtuellen Welt der einzige Ort, der ein wenig Abwechslung vom tristen Alltag der Station bot. Jetzt am Abend hatte sich gut die Hälfte der Besatzung dort versammelt. Die meisten saßen an den Tischen, vor sich eine Dose Bier, und starrten den Holoprojektor in der Ecke an. Es lief gerade ein Nachrichtenfeed. Ein Pure in Konzernuniform ließ sich über irgendein Mutantenprogramm aus.
Als Skip den Raum betrat, drehten sich die Gesichter in seine Richtung.
„Schau an“, rief Jan Hanssen, der Lagermeister, ihm breit grinsend entgegen, „noch so ein heimlicher Zuchtbulle! Lass hören, Skip! Wie viele kleine Mutanten hast du schon in die Welt gesetzt?“
Skip war verwirrt. „Wovon sprichst du? Hab’ ich was verpasst?“
„Verpasst? Keine Ahnung, wie vielen Mutantenbräuten du schon einen Braten in der Röhre verpasst hast.“ Hanssen unterstrich seine Äußerung mit einer obszönen Geste.
„Halt die Klappe, Muttersöhnchen!“ Mace hielt Hanssen den ausgestreckten Mittelfinger entgegen. Dann wandte er sich Skip zu. „Hör nicht auf die Spacken, Mann! Irgendwo auf dem Mars haben sie Mutantenkinder entdeckt. Mitsamt Mutter. Und jetzt meinen sie, wir hätten den ganzen Tag nichts Besseres zu tun, als rumzuvögeln und Blagen in die Welt zu setzen.“
„Aber wir können doch gar keine Kinder zeugen!“, entfuhr es Skip unwillkürlich.
„Tja, mein Lieber“, warf Hanssen ein, „das dachten wir alle bis heute. Sieht aber so aus, als hättet auch ihr noch was anderes als Pisse im Sack.“
Skip wandte sich dem Nachrichtenhologramm zu und auch die anderen wurden wieder still.
„… müssen nun untersuchen, ob es sich bei den Kindern wirklich um reinrassige Beta-Klasse-Arbeiter handelt oder ob unmodifiziertes menschliches Erbgut eine Rolle gespielt hat“, fuhr der Konzernlakai fort. „Eine natürliche Befruchtung mit zwei Mutanten als Eltern können wir nach bisherigem Kenntnisstand sicher ausschließen. Das ist schlicht nicht möglich. Mutanten sind prinzipbedingt unfruchtbar. Das bringt die Manipulation ihres Erbgutes unweigerlich mit sich. Daran hat sich seit ihrer Markteinführung vor gut fünfzig Jahren bis heute nichts geändert. Auch die aktuellen Generationen können ausschließlich durch künstliche Befruchtung in den Zuchtfarmen gezeugt werden …“
„Ach, quatsch keine Scheiße, Mann!“, übertönte Hanssen den Konzernmann. „Wir haben die Blagen doch gesehen. Das sind keine Menschen, sondern verdammte Mutanten. Kein Zweifel!“
„He du Nippelsauger!“ Mace wuchtete seinen Vier-Zentner-Leib vom Stuhl hoch und ging einen Schritt auf Hanssen zu. Skip fiel auf, dass Norms und Mutanten – zumeist riesenhafte Alphas wie Mace – heute an getrennten Tischen saßen. Auch Jorge hatte sich zu seinesgleichen gesellt und versuchte mit mäßigem Erfolg, seinen Vorgesetzten nicht allzu feindselig anzusehen.
Hanssen erhob sich. Er war mehr als einen Kopf kleiner und trotz seiner für einen Norm überaus stämmigen Statur geradezu schmächtig im Vergleich zu dem riesenhaften Alpha.
„Wir sind auch Menschen!“, fuhr Mace seinen Gegenüber an. „Vergiss das mal ja nicht, sonst bring ich’s dir bei!“
„Ruhig, Großer.“ Skip legte dem Riesen eine Hand auf den Arm. Mace schnaubte noch einmal, setzte sich dann aber wieder hin.
„Bleibt alle mal auf dem Teppich!“, warf Skip in die Runde. Alle Augen waren auf ihn gerichtet. „Ich hab’ keine Ahnung, was sie auf dem Mars gefunden haben. Aber ich habe schon reichlich Beta-Frauen und auch ein paar andere vernascht und dabei ist nie was anderes rausgekommen als ein bisschen Spaß. Und allen anderen Mutanten, die ich kenne, geht das genauso. Keine Gummis, keine Pille. Brauchen wir nicht. Ist halt so. Da auf dem Mars hat irgendwer was in den falschen Hals gekriegt. Ist nur ein Missverständnis oder eine gezielte Fehlinformation. Lasst euch nichts anderes vormachen!“
„Und was ist damit?“ Hanssen hatte den Nachrichtenfeed ein Stück zurückgespult. Das Hologramm zeigte ein verrauschtes 2D-Bild. Skip brauchte einen Moment, um zu erkennen, was es darstellte, dann sah er denselben kantigen Schädel, der ihn jeden Morgen im Spiegel ansah, nur in der Größe eines Säuglings, gepresst an die Brust einer Frau, die so eindeutig ein Beta-Klasse-Arbeiter war wie er selbst.
„Ist dir wie aus dem Gesicht geschnitten, findest du nicht?“, erläuterte Hanssen das Holobild. „Und wo wir gerade dabei sind. Du bist doch erst seit einem halben Jahr hier auf der Erde, oder? Wo warst du vor – sagen wir mal – neun Monaten? Zufällig auf dem Mars? Vielleicht ist es ja dein Blag.“
Skip atmete tief durch. Seine Konstrukteure hatten ihn wie alle Betas mit großem Gleichmut und viel Geduld ausgestattet. Das half ihm jetzt, die Provokationen des Norms hinzunehmen.
„Vor neun Monaten war ich auf dem Weg zur Erde. Weit weg vom Mars. Und das da“, er zeigte auf das Hologramm, „ist einfach nur ein Mutantenbaby. In den Zuchtfarmen gibt es davon haufenweise. Ich war auch mal so einer. Wie das Kind aus der Farm zu dieser Frau gekommen ist, weiß ich auch nicht. Aber das da beweist gar nichts. Wir sollten uns alle ein wenig beruhigen. Sonst ist euch doch auch scheißegal, was jenseits des Erdorbits passiert. Und jetzt wollt ihr euch gegenseitig an die Gurgel gehen, nur weil sie auf dem Mars ein Mutantenkind gefunden haben? Das ist doch sogar unter eurem Niveau! Also Ende der Diskussion. Ich geb’ ’ne Runde!“
Er ging zum Getränkeautomaten und orderte zwanzig Biere. Die eine Hälfte der Anwesenden hob anerkennend die Dosen und prostete ihm zu. Die übrigen, inklusive Hanssen, wandte sich etwas widerwillig wieder anderen Themen zu. Irgendjemand schaltete den Nachrichtenfeed aus und wechselte auf einen Musiksender. Langsam wich die allgemeine Anspannung den üblichen Feierabendgesprächen. Die Trennung von Mutanten und Norms blieb jedoch weitgehend erhalten und immer wieder wurden Blicke ausgetauscht, die irgendwo zwischen Skepsis und Feindseligkeit anzusiedeln waren.
Skip holte sich ein Bier aus dem Automaten und setzte sich zu Mace.
„Ich hab’ da ein ganz mieses Gefühl“, vertraute der Riese ihm flüsternd an. „Ein ganz mieses Gefühl.“

Kurzgeschichte „Parlamentäre“

aus „Motherlode und andere Kurzgeschichten aus dem 23. Jahrhundert“

05.02.2185, Anflug auf den Asteroiden Oceana, Asteroidengürtel
Die Streitmacht näherte sich unaufhaltsam. Die drei schweren Schlachtkreuzer der Guardian-Klasse reckten ihre Triebwerke dem Ziel entgegen und bremsten unter vollem Schub ab. In 3704 Sekunden würde die Oceana-Minenkolonie in effektiver Reichweite der Hauptbewaffnung sein. Der Kommandant der Angriffsflotte wertete unaufhörlich die neuesten Sensordaten aus, analysierte die Stärke der Verteidiger und extrapolierte mögliche Schlachtverläufe.
Im Orbit um den Asteroiden hatten zwei Zerstörer und vier Fregatten eine Defensivformation eingenommen. Keines der Schiffe kam den Guardian-Kreuzern an Kampfeskraft gleich, doch die Gegner waren in der Überzahl. Die Simulationen kamen zu keinem eindeutigen Ergebnis. Es existierten zu viele unbestimmte Parameter. Insbesondere über den aktuellen Status der feindlichen Flotte fehlten präzise Informationen. Vor 22 Tagen hatte sie die Kolonie erobert. Menschen hatten sie verteidigt, anachronistisch und ineffizient. Die Niederlage war unausweichlich gewesen. Dennoch hatten sie sich zur Wehr gesetzt. Welche Schäden hatten die Eroberer dabei hinnehmen müssen? Wie weit waren die Reparaturen fortgeschritten? Wie viel Munition besaßen sie noch? Die verfügbaren Daten waren unzureichend, um verlässliche Aussagen zu treffen. Die Unsicherheit stellte ein Problem dar. Der Kommandant bevorzugte eindeutige Verhältnisse.
Zumindest die Aufgabenstellung lag zweifelsfrei fest: Der Asteroid musste dem Zugriff der Feinde wieder entrissen werden. Das hatte oberste Priorität. Wenn möglich, sollten Kollateralschäden an der Minenkolonie dabei vermieden werden. Nur, wenn die Simulationen mit mehr als 75-prozentiger Wahrscheinlichkeit eine Niederlage voraussagten, durfte der Rückzug angetreten werden. Davon waren die aktuellen Prognosen weit entfernt.
Das Aufflammen eines Triebwerks knapp über dem Asteroiden erregte die Aufmerksamkeit des Kommandanten. Ein Flugkörper kam den Angreifern mit hoher Beschleunigung entgegen. Eine Rakete? Die Wahrscheinlichkeit dafür lag bei 2,8 Prozent. Ein einzelnes Geschoss stellte für die Projektilabwehr der Schlachtkreuzer kein Problem dar. Das wussten auch die Gegner. Interessiert verfolgte der Kommandant den Kurs des Objekts. Nach 576 Sekunden empfingen die ComAntennen ein Signal. Es ging eindeutig von dem Flugobjekt aus und war unverschlüsselt. Eine Einladung zu Verhandlungen. Anscheinend waren auch die Verteidiger sich ihres Sieges nicht sicher. 18 Millisekunden lang wägte der Kommandant ab, ob er das Angebot annehmen sollte. Er entschied sich dafür.
Er kopierte einige ausgewählte Subroutinen seines Codes in einen gesicherten Speicher, komprimierte den Datensatz und sandte ihn über die ComAntennen zu dem Objekt. 0,2 Sekunden später traf er dort ein, wurde dekomprimiert, installierte eine Firewall und analysierte seine Umgebung. Entsprechend dem ermittelten Szenario handelte es sich nicht um eine Rakete, zumindest keine mit einem Sprengkopf. Das Flugobjekt bestand neben dem Antrieb sowie den Brennstoff- und Treibmassetanks lediglich aus einem leistungsfähigen Computer, auf dem seine Programme problemlos liefen. Keine Abwehrmechanismen behinderten seine Aktivitäten oder attackierten ihn gar.
Neutraler Boden.
Wie erwartet, war er nicht allein. Er entdeckte weitere Codes, fremde Routinen, durch eine eigene Firewall vor Zugriffen geschützt, genau wie er selbst.
Keiner der beiden Kontrahenten legte Wert auf eine formelle Begrüßung. Der Zweck des Treffens war klar: Den Gegner einschätzen, um die Eingangsparameter für die Simulationen zu spezifizieren und den Ausgang des bevorstehenden Gefechtes mit möglichst hoher Genauigkeit berechnen zu können. Bei einem eindeutigen Ergebnis könnte der Konflikt ohne Gewaltanwendung gelöst werden, indem eine der Kriegsparteien sich zurückzog.
Der Kommandant startete eine Simulation, zugegebenermaßen mit sehr optimistischen Eingangsparametern, aber das gehörte zum Algorithmus der Verhandlung. Das Ergebnis zeigte eine 86-prozentige Wahrscheinlichkeit für den Sieg seiner Streitmacht.
Der Gegner analysierte die Daten, modifizierte die Parameter und ließ die Simulation erneut laufen. Erwartungsgemäß gewannen dieses Mal die Verteidiger mit mehr als 70 Prozent Wahrscheinlichkeit.
Der Kommandant prüfte die geänderten Werte, verglich sie mit den letzten Sensordaten, beließ diejenigen, die ihm realistisch erschienen, und änderte alle übrigen. Ein neuer Anlauf. Ergebnis: 68 Prozent für einen Sieg.
39 Iterationen später schwankte die Wahrscheinlichkeit zwischen 47 und 55 Prozent, ohne dass eine weitere Eingrenzung der Unsicherheit erkennbar war. Eine unbefriedigende Situation, die radikale Schritte erforderte. Der Kommandant entfernte die Maßgabe, die Minenkolonie zu schonen, aus dem Parametersatz. Das Resultat war zufriedenstellend: 71 Prozent Siegeswahrscheinlichkeit.
Der Gegner zögerte nicht, seine eigene Taktik entsprechend anzupassen. 52 Prozent. Innerhalb der Genauigkeit des Ergebnisses wieder ein Patt.
Noch einmal versuchten beide, durch Detailanpassungen die Chancen zu ihren Gunsten zu verschieben, doch keinem gelang es, relevante Erfolge zu erzielen. Sie beendeten die Simulationen, fassten jeder für sich die Ergebnisse in Datenpakete zusammen, sandten sie über die ComAnlage des Mini-Raumschiffes zu ihren Kampfverbänden und löschten sich selbst.
Zurück auf dem Schlachtkreuzer scannte der Kommandant das Datenpaket auf Viren oder andere Schadsoftware und nahm es nach erfolgreichem Abschluss des Tests in seinen Code auf. Die Trennung hatte 109 Sekunden gedauert. Ausführlich begutachtete er die Ergebnisse der Verhandlungen. Er entdeckte keine relevanten Fehler. Falls die Gegner nicht geblufft oder ihn anderweitig getäuscht hatten, war das Kräfteverhältnis ausgeglichen. Die einzige Möglichkeit, die verbliebenen Unsicherheiten auszuräumen, bestand darin, den Konflikt in der Realität auszutragen.
Ein weiterer Funkspruch erreichte ihn, eine unverschlüsselte Videobotschaft. Das verrauschte Bild zeigte einen Menschen in einem schmutzigen Overall.
„Hier spricht Alicia Manero, Produktionsleiterin der Oceana Minenkolonie“, erklärte die Frau. Der Kommandant erkannte eine 98-prozentige Chance für Angst in ihrer Stimme, dazu 93 Prozent für Verzweiflung und 97 Prozent für Erschöpfung. „Seit dem Tod von Administrator Colson vor einer Woche habe ich die Leitung der Kolonie übernommen. Ich appelliere hiermit inständig an beide Kriegsparteien, die zivilen Einrichtungen der Kolonie aus den Kämpfen herauszuhalten. Wir sind unbewaffnet. Die Habitate wurden bereits bei den letzten Kämpfen schwer beschädigt und sind nur notdürftig geflickt. Jeder weitere Angriff kann eine Katastrophe auslösen. Bitte schonen Sie uns. Manero Ende.“
Der Kommandant schätzte die Wahrscheinlichkeit ab, dass der Gegner die Aufforderung berücksichtigte. Das Ergebnis war eindeutig: 3,6 Prozent. Wie die Simulationen bereits gezeigt hatten, würde es die Aussicht auf einen Sieg in unverhältnismäßiger Weise reduzieren, sich selber derartige Beschränkungen aufzuerlegen.
Er archivierte die Videonachricht mit einem Vermerk, sie in das abschließende Protokoll aufzunehmen, löschte sie aus dem Arbeitsspeicher und arbeitete den Angriffsplan aus. Er transferierte die Daten an die beiden anderen Kreuzer.
2642 Sekunden später startete er die erste Raketensalve. Die Schlacht begann.

06.02.2185, Nachrichtenfeed Universe News
„Willkommen bei Universe News, dem Infokanal Ihres Vertrauens.“ Innerhalb eines Augenblicks wich das einladende Lächeln im Gesicht des Reporters tiefer Betroffenheit. „Die Schreckensmeldungen aus dem Asteroidengürtel finden kein Ende. Soeben erreicht uns die Nachricht, dass gestern eine weitere bewaffnete Auseinandersetzung zweier Flottenverbände konkurrierender Konzerne, dieses Mal der United Space Industries Corporation und der Planetary Recources Incorporated, stattgefunden hat. In dem erbitterten Kampf wurden beide Streitmächte nahezu vollständig vernichtet. Da ausschließlich von Künstlichen Intelligenzen gesteuerte Einheiten an der Schlacht teilgenommen haben, sind auf keiner Seite der kriegsführenden Parteien menschliche Opfer zu beklagen. Tragischerweise wurde jedoch die Minenkolonie auf dem Asteroiden Oceana, in deren unmittelbarer Nachbarschaft die Kämpfe ausgetragen wurden, schwer in Mitleidenschaft gezogen. Wie viele der rund tausend zivilen Bewohner der Kolonie den Tod gefunden haben, ist unklar, da derzeit kein Kontakt zu Oceana besteht. Spekulationen, nach denen die Kolonie vollständig vernichtet wurde, konnten bislang nicht verifiziert werden. Stellungnahmen der beteiligten Konzerne liegen ebenfalls noch nicht vor.“
Der Reporter machte eine kurze Pause, bevor er weitersprach.
„Sollten die schlimmsten Befürchtungen sich bestätigen, dann haben die sogenannten Iridiumkriege einen weiteren, grausamen Höhepunkt erreicht. Seit die kämpfenden Einheiten in zunehmendem Maße dem Kommando Künstlicher Intelligenzen unterstellt werden, steigt die Zahl der zivilen Opfer rasant an. Im Transnationalen Konzernrat werden die Forderungen lauter, den Einsatz von KIs strenger zu reglementieren oder gar vollständig zu verbieten. Doch solange die Mehrheit der stimmberechtigten Ratsmitglieder aktiv an den Kämpfen teilnimmt, ist mit der Umsetzung derartiger Maßnahmen kaum zu rechnen. Wir dürfen also erwarten, dass uns weiterhin schreckliche Nachrichten aus den Kolonien erreichen werden. Sie sehen Universe News. Mein Name ist Ephraim Zharkov. Guten Tag.“


Internet: http://www.century23.de
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